In den letzten Monaten haben wir uns alle mit sehr vielen Veränderungen auseinandersetzen müssen: dem Lockdown, dem “social distancing”, den Masken, insgesamt den Folgen eines kleinen Virus, das plötzlich aufgetaucht war. Als bei mir im November 2018 die Krabbe einzog und ich mich meiner persönliche Krise der Extraklasse stellen durfte, habe ich natürlich nicht damit gerechnet, dass dies noch lange nicht alles gewesen sein sollte. Es sollte noch etwas kommen, es kam und traf uns alle. Ich habe diese merkwürdige Zeit genutzt, um Klarheit zu gewinnen und meinen Fokus neu auszurichten. In der Ruhe reifen gute Gedanken. Und so entsteht Schritt für Schritt, indem ich mich auf das Wesentliche konzentriere, etwas Neues: mein Buch! Auf meinen Spaziergängen habe ich jeden Tag noch intensiver die Küste oder die Heide erkundet in langen Wanderungen. Die Bewegung tut mir unendlich gut. Die therapiebedingt dahinschwindende Stabilität meiner Gelenke wird dadurch etwas abgemildert, und so schaffe ich zusammen mit Ikiba, meinem wundervollen Ridgeback, täglich einige Kilometer. Ich habe neue Pfade entdeckt, die nicht so bevölkert sind, und so erkunden wir teilweise wirklich unberührte Natur. Es tut körperlich gut und ist wahrlich auch für die Seele immer wieder ein wundervolles Erlebnis. Wir entdecken immer neue beeindruckende kleine Wunder der Natur, und Ikiba mag das frische neue Sommergras zum Stromern.
Wenn wir spät unterwegs sind, werden wir oft belohnt mit fantastischem Licht oder wunderschönen Sonnenuntergängen. Die lieben wir besonders zum Tagesausklang. So sitzen wir oft an der kleinen Hütte direkt zwischen Heide und Wald und warten bis die Sonne am Horizont verschwunden ist, um in dieser wohltuenden Stille alles in ein rötliches Licht zu tauchen, bis das Dunkel übernimmt für die kommende Nacht.
Zeit für neue Gedanken
Für mich war es vor allem wichtig, mich einmal herauszunehmen aus den sich überschlagenden Nachrichten, die gar nicht mehr zu verarbeiten waren. Wir haben nun alle lernen müssen, dass sich die Dinge schnell ändern können und dass nichts sicher und selbstverständlich ist. Auch, dass wir keine Garantien für ein unversehrtes Leben haben. Ist man mit einer chronischen Krankheit konfrontiert, hat man hier vielleicht einen Vorsprung, denn für uns Menschen mit einer Krabbe zum Beispiel, ist dies jeden Tag die Herausforderung, diese Tatsache anzunehmen. So hatte ich gleich zu Beginn der Corona-Ära eher weniger Angst, aber sicher einen angemessenen Respekt vor diesem unsichtbaren kleinen Etwas, das uns alle doch ordentlich durchschütteln sollte. Ich war plötzlich auch damit konfrontiert, selbst “Risikogruppe” zu sein. Denn bisher kam das Ungewisse, die Krabbe, ja von innen, nun kam ein schwer einzuschätzendes Risiko von außen hinzu.
Es ist wohl selbst für Experten ganz natürlich, in einer solch komplexen und völlig neuen Lebenswirklichkeit, keine eindeutigen Antworten parat zu haben. Oder leben wir tatsächlich in der verrückten Gewissheit, alles maximal kontrollieren zu können, und uns ist einfach das Ruder aus der Hand gerissen worden, wobei dies bitte schnellstens wieder jemand in die Hand nehmen möge?
Ich glaube, so einfach ist das nicht, denn wir bedienen uns heute der Natur ausschließlich zu unserem Nutzen und unserer Bequemlichkeit – und zerstören dabei in weiten Teilen unseren Lebensraum. Dies dauerhaft und mit großem Erfolg. Ist es nicht nur natürlich, dass die Natur uns irgendwann Grenzen aufzeigt?
So bleiben gerade derzeit eher viele Fragen offen. Und das ist gut so! Vielleicht sind es gerade die Fragen, die uns sinnvollerweise intensiv beschäftigen sollten. Nicht in der Erwartung schneller Antworten anderer, sondern in der Chance, durch neue Gedanken selbst Antworten zu finden und dadurch Dinge zu ändern.
Schon vor Jahrtausenden lehrten die Philosophen, dass wir durch Fragen interessante neue Perspektiven einnehmen können, die uns mehr und mehr erkennen lassen, welcher Weg für uns richtig ist. In einer Krise – sei es eine persönliche Erfahrung oder solch eine weitgreifende Veränderung, die wir gerade erleben – ist eines wesentlich: Sehe ich das Helle oder das Dunkle? Habe ich Hoffnung und glaube daran, etwas zum Guten bewegen zu können, oder sehe ich schwarz und ergebe mich in mein unabwendbares Schicksal? Mit der Krabbe habe ich sehr gut gelernt, die Hoffnung zu sehen und damit das Helle. Und dabei waren einige Hürden zu nehmen. Ich habe gelernt, dass es unsinnig ist, dem “Davor” nachzutrauern, und habe mich auf eine neue Reise begeben in mein “Danach”. Die Reise dauert an, und sie ist wunderbar! Auch das Dunkle gehört zum Leben, es zeigt uns auf, dass unser Dasein begrenzt ist, und dadurch wird das Helle nur noch leuchtender mit jedem neuen Tag, der so viele Möglichkeiten und so viel Schönes bietet. Natürlich haben wir Angst vor dem Ungewissen, und das ist auch gut so. Die Angst lehrt uns den Respekt vor dem Leben und vor der eigenen Kraft, die nur dann wächst, wenn wir die Hürden wirklich nehmen und uns bewusst sind darüber, dass es neue Hürden geben kann in Form von Aufgaben, neuen fordernden Zielen oder auch einem kleinen Virus. Denn die Welt kann sich ändern, und dann ist die Aufgabe nicht, verzweifelt Schuldige und Verantwortliche zu suchen und den Weg zurück zu finden, sondern weiterzugehen vielleicht auf anderen neuen Wegen.
Gewinn in der Lebenslotterie
Gerade dieser Tage habe ich das Ergebnis meines halbjährlichen CT-Scans bekommen. Es ist immer eine Herausforderung, und ich brauche dazu immer wieder eine Portion Mut, mich in dieses riesige Wunderwerk der Technik zu legen. Mein Körper wird dann nach möglichen neuen Herden oder Metastasen abgesucht. Das Gefühl gleicht der Teilnahme an der großen Lebenslotterie in der Hoffnung auf den Gewinn weiteren Lebens. Diesmal habe ich wieder Leben gewonnen, und ich bin so unfassbar glücklich und dankbar dafür. Die Reise geht also weiter mit vielen offenen spannenden Fragen, die zum inneren Diskurs einladen und mit so vielen neuen Erkenntnissen. Ich sehe das Helle wie so oft, denn eins ist sicher – das Leben ist schön!