Ein Jahr – ein großer Fels

Sprichwörter sind manchmal nett und auch gerne mal banal. Wer kennt nicht diese Bildchen mit Zitaten, die vor allem im Social Net eine große Karriere machen, fein verziert mit Blümchen, Herzchen, stimmungsvollen Bildern. Einige sind auch recht cool, vor allem die, die schon leicht an britischen Humor rankommen oder situationskomisch einfach einen Lebensmoment zitieren.

Eines davon passt recht gut derzeit, und das hat mit Steinen zu tun, aus denen man – glaubt man dem Sprichwort – etwas Schönes, vielleicht sogar ein Haus, bauen kann, wenn sie im Weg liegen. Mir stellt sich spontan die Frage nach der Größe und Anzahl der Steine, denn von Felsen war nicht die Rede. Dann auch nach der Architektur des Hauses, das mal daraus werden soll und nach der Arbeit mit den ganzen Steinen, die da rumliegen. Fragen über Fragen. Ein Pragmatiker war ich ja schon immer!
Und doch bin ich auch Romantiker. Ich habe zum Beispiel fast immer Sehnsucht nach dem Meer. Allerdings ohne jemals auch nur die geringste Lust verspürt zu haben, ein Schiff zu bauen. Soll man ja bekanntlich: die Menschen die Sehnsucht nach dem Meer lehren, wenn sie ein Schiff bauen wollen. Was ist bloß los mit mir? Kein Schiff, kein Haus.

Ich weiß gerade dieser Tage ganz genau, was los ist. Der dicke Felsen, der da lag vor fast genau einem Jahr, der liegt da immer noch, und doch ist er ganz schön bröselig geworden. Ich habe ihn weder mit brachialer Wut böse aus dem Weg gekickt – hätte eh zu sehr geschmerzt – noch liebevoll in architektonische Pläne gepackt. Ich habe einfach gemacht, was ich immer mache. Ich habe ihn mir angeschaut und gesagt, ok, wir beide, wir schauen jetzt mal, ob wir ein Miteinander finden, wie wir uns gegenseitig nutzen. Dann bin ich mal draufgeklettert, um von oben eine ganz neue Perspektive einzunehmen. Und ein anderes Mal hab ich mich einfach daneben gesetzt, in seinen Schatten und habe nachgedacht über den Weg, der vom Felsen aus weitergeht. Manchmal wurde der Boden unter ihm etwas lockerer und ich habe ihn ein wenig zur Seite gerollt, um den Horizont besser zu erkennen, der hinterm Felsen liegt. Und oft, sehr oft, hab ich ihn so auf der Seite liegend gar nicht mehr beachtet. Der Horizont war weitaus schöner und bot viele neue Ein- und Ausblicke.

Nichts ist selbstverständlich

Am 5.11.2018 habe ich meine Diagnose Brustkrebs bekommen. Die Krabbe war eingezogen vor nun fast einem Jahr. Wenn ich zurückschaue, kann ich kaum glauben, was alles passiert ist. Ja, ein steiniger Weg zu einem Teil. Drei Operationen, unzählige Antikörper und sonstige Medikamente, die es in sich haben, die helfen und auch einen Preis dafür fordern. Unfassbar viele Termine mit all den Ärzten. Und der Verlust einer Brust. Ja, eine solche Diagnose ist eine radikale Lebensveränderung, die viel von einem fordert. Das steht außer Frage, und dennoch, so kurios es klingen mag. Es ist auch eine riesige Chance, das Leben, wie den Felsen, aus einer ganz neuen Perspektive zu betrachten. Es ist denkbar simpel: Das Leben ist wertvoller geworden, denn es ist nicht mehr selbstverständlich da.

Auch dies ist eine schlaue Erkenntnis, die sich auf viele bunten Postkarten findet. Lebe jeden Tag, als sei es Dein letzter. Carpe diem liest sich so leicht und ist mit das beliebteste Wandtattoo. Wird auch mal kurz gelebt, bevor es zum nächsten stressigen Meeting geht! 

Wobei es meist heute schwierig ist. Das „Diem“ klemmt! Ab morgen wird es besser. Oder zum neuen Jahr oder im neuen Job. Oder halt einfach irgendwann. Ist nicht so verbindlich.

Nun gibt es auch genau diese andere Seite der Krabbe. Die Seite dieser bahnbrechenden Erkenntnis, dass es „irgendwann“ vielleicht nicht gibt. Dass in der Tat irgendwann alles zu Ende ist, wie ein Urlaub, ein schöner Moment, ein leckeres Menü, ein toller Hundespaziergang, ein Sonnenuntergang, eine Fahrt ans Meer, eine kristallklare Sternennacht, ein inniger Moment mit dem liebsten Menschen, ein Augenblick, der Dinge verändert, ein Zufallstreffen, das Weichen stellt, so auch ein Leben. Ich habe genau dies lernen dürfen, all diese Momente als eigene kleine Leben zu schätzen und daraus ein ganz neues Leben zu formen. Auch dies war das letzte Jahr: ein Jahr voller wundervoller Momente, die jeder für sich ein Leben sind, die zwar vergehen, aber im Herzen bleiben.

“ZEIT FÜR GROSSARTIGE PLÄNE, DIE JEDEN TAG SCHON GELEBT WERDEN. SO EIN JAHR, DAS KANN NUR GUT SEIN.”

Und noch ein wirklich nettes Sprichwort gibt es, welches Erich Kästner wohl gleichermaßen einfach wie weise formuliert hat. Es gibt nichts Gutes außer man tut es.

Nun, tut man jahrelang das Falsche oder vielleicht zu viel vom Falschen und zu wenig vom Guten, dann gibt es Menschen wie mich, die brauchen den ganz großen Hinweis, den Urknall und den gleich im Doppelpack, denn was möchte das eigene Leben oder irgendein aufmerksames Karma, dem meine Lebensfreude-Ignoranz schlicht unglaublich auf die Nerven ging, einem wohl sagen, wenn es einem gleichzeitig einen lebensbedrohlichen Zustand sowie die große Liebe präsentiert? Dann steht man da mit seinem Karma – tätäääää. Und dann geht sie los die Reise, die ein ganz neues Leben werden sollte.

Ein Jahr, das neben sehr viel Liebe, dem Lieblingsmenschen, einem wunderschönen zu Hause auch eins brachte: Zeit für grossartige Pläne, die jeden Tag schon rege gelebt werden. So ein Jahr, das kann nur gut sein.

Ich habe gelernt, habe verstanden, und so möchte ich von Herzen empfehlen, sich dicke Felsen, die allerlei Gestalt haben können, genau anzuschauen, mal drumherum zu gehen, vielleicht draufzuklettern, zunächst ein wenig an ihnen zu rütteln oder mal zu schauen, ob man sie etwas bewegen kann. Meist geht es nämlich besser als man denkt. Sie haben eine Aufgabe, sie zeigen uns manchmal drastisch auf, etwas zu verändern, neue Wege zu gehen und auch Dinge, die wir so gar nicht wollten, anzunehmen.

So haben die Krabbe und ich heute nach diesem Jahr einen gemeinsamen Nenner gefunden, eine Art friedliche Koexistenz. Sehr klein geworden und durch das schöne Leben ihrer Bestimmung beraubt, bekommt sie so viel Aufmerksamkeit wie nötig und und so wenig wie möglich. Sie verabschiedet sich – langsam aber kontinuierlich – und hinterlässt nicht Verwüstung sondern Erkenntnis. 

Denn kein Kampfanzug und keine Waffe dieser Welt macht uns dem Felsen überlegen. Ihn zu sprengen bedeutet nur weitere Zerstörung und das Wühlen in Trümmern. Der weite Blick jedoch, der uns neue Horizonte zeigt, der ist so wertvoll und der lässt so manchen Wunsch und Traum wahr werden, wenn wir uns und den Felsen sanft und voller Erkenntnis bewegen.